Vertragsrecht

Das Oberste Gericht Russlands hat Erläuterungen zu den Auswirkungen der Coronakrise auf Verträge erlassen. Die IHK Russlands kann Zertifikate ausstellen.

Vertragliche Klauseln gehen vor

Grenzüberschreitende Verträge enthalten meist eine Klausel über höhere Gewalt (Force-Majeure), die konkrete Tatbestände (z.B. Naturkatastrophen etc.) und deren Folgen für die Vertragsabwicklung nennen. Die Vertragsklauseln gehen den Gesetzesvorschriften vor und sind daher hinsichtlich Auswirkung von Ausfällen oder Verzögerungen bei Warenlieferungen und Zahlungen primär heranzuziehen. Zunächst wäre also zu fragen, ob die Klausel den Ausbruch einer Epidemie oder Pandemie sowie behördliche Anordnungen ausdrücklich regelt oder Begriffe enthält, die entsprechend ausgelegt werden können. Die Klausel kann eine Pflicht zur Benachrichtigung über die Umstände sowie die Vorlage einer entsprechenden Bescheinigung verlangen.

Regelungen im russischen Recht

Gemäß Art. 401 Abs. 3 Zivilgesetzbuch (ZGB) haftet eine Person, die eine unternehmerische Tätigkeit ausübt, für Nicht- oder Schlechterfüllung ihrer Verpflichtungen, sofern sie nicht Beweis dafür erbringt, dass die ordnungsgemäße Erfüllung infolge von höherer Gewalt, d.h. von außerordentlichen und unabwendbaren Umständen, unmöglich geworden ist. Die Vorschrift stellt klar, dass Pflichtverletzungen seitens der Vertragspartner des Schuldners, das Fehlen von für die Erfüllung notwendigen Waren auf dem Markt sowie Geldmangel nicht zu solchen Umständen zu zählen sind. Gemäß Beschluss des Obersten Gerichts vom 24. März 2016 gilt ein Umstand als unabwendbar, wenn jeder Teilnehmer des Handelsverkehrs, der eine ähnliche Tätigkeit ausübt, den Eintritt von Umständen und ihrer Folgen nicht hätte verhindern können.

Haben sich Umstände, auf deren Grundlage der Vertragsabschluss zustande gekommen ist, schwerwiegend verändert, kann der Vertrag gemäß Art. 451 ZGB geändert oder aufgehoben werden, wenn sich aus dem Vertrag und seinem Wesen nichts anderes ergibt. Die Änderung von Umständen gilt als schwerwiegend, wenn sie sich derart verändert haben, dass die Parteien, sofern sie dies hätten vernünftigerweise vorhersehen können, den Vertrag gar nicht oder zu ganz anderen Bedingungen abgeschlossen hätten.

Wenn die Vertragsparteien keine Einigung über eine Vertragsanpassung oder -aufhebung erzielt haben, kann die Aufhebung und Anpassung vor Gericht bei Vorliegen folgender Voraussetzungen beantragt werden:

  • Die Parteien sind bei Vertragsschluss davon ausgegangen, dass eine solche Änderung der Umstände nicht eintritt;
  • Die Änderung der Umstände erfolgte aus Gründen, die die betroffene Vertragspartei bei Anwendung der nach Vertrag und Verkehrssitte erforderlichen Sorgfalt nicht überwinden konnte;
  • Die Vertragserfüllung würde das Verhältnis der wirtschaftlichen Interessen der Vertragsparteien stören und die betroffene Partei derart benachteiligen, dass sie den beim Vertragsschluss erwarteten Vorteil im Wesentlichen verlieren würde;
  • Aus dem Wesen des Vertrages und den Handelsbräuchen folgt nicht, dass die einschlägige Partei das Risiko der Änderung der Umstände trägt.

Nach Art. 202 ZGB ist die Verjährung gehemmt, wenn die Rechtsverfolgung aufgrund höherer Gewalt unmöglich war. Ab dem Tag, an dem der Umstand höherer Gewalt nicht mehr besteht, läuft die Verjährungsfrist weiter.

Coronakrise als „höhere Gewalt“?

Das Oberste Gericht Russlands hat in seinen Erläuterungen vom 21. April 2020 (Ziffer 7) klargestellt, dass die Corona-Pandemie nicht universell für alle Kategorien von Schuldnern als Umstand höherer Gewalt anerkannt werden kann. Vielmehr sind im Einzelfall die Art der Tätigkeit und ihrer Ausübung, die Region, die Frist der Pflichterfüllung, die Art der nichterfüllten Leistung, die Angemessenheit und die Sorgfältigkeit der Handlungen des Schuldners zu berücksichtigen.

Staatliche Schutzmaßnahmen wie Unternehmens- und Behördenschließungen, die Einführung des Regimes der Selbstisolation und Fahrverbote können Umstände höherer Gewalt darstellen, wenn sie die o.g. Kriterien erfüllen und der Kausalzusammenhang zwischen diesen Umständen und der Nichterfüllung einer Leistung besteht. Geldmangel kann ausnahmsweise ein Umstand höherer Gewalt sein, wenn er durch ein angeordnetes Tätigkeitsverbot oder Unternehmensschließung verursacht wurde.

Sofern die Umstände temporären Charakter haben, kann die betroffene Vertragspartei für einen angemessenen Zeitraum von der Haftung befreit werden, solange sie infolge höherer Gewalt an der Erfüllung ihrer Leistung gehindert ist. Dafür muss sie Folgendes beweisen:

  • Vorliegen und Dauer der Umstände höherer Gewalt;
  • Kausalzusammenhang zwischen diesen Umständen und der Unmöglichkeit oder Verzögerung der Vertragserfüllung;
  • Nichtbeteiligung der Vertragspartei an der Schaffung von solchen Umständen;
  • Gewissenhafte Vornahme von vernünftigerweise zu erwartenden Maßnahmen zur Risikoverhinderung bzw. -minimierung.

Dabei können Bescheinigungen Beachtung finden, die das Vorliegen von Umständen höherer Gewalt bestätigen (s.u.). Der Schuldner bleibt verpflichtet, nach dem Wegfall der Force-Majeure-Umstände seine Leistung zu erbringen.

Sofern staatliche Maßnahmen und sonstige Umstände zur dauerhaften und unüberwindbaren Unmöglichkeit der Leistung führen, kann eine Leistungspflicht nach Art. 416, 417 ZGB entfallen.

Zertifikate über Umstände höherer Gewalt

Bei der IHK Russlands kann die Ausstellung eines Zertifikates, das das Vorliegen von Umständen höherer Gewalt in Russland bestätigt, beantragt werden. Dies ist u.a. bei Massenerkrankungen (Epidemien), Verkehrsbeschränkungen, staatlichen Verboten, Handelsverboten, Streiks, Bränden und anderen Umständen, die nicht vom Willen der Vertragsparteien abhängen, möglich. Dagegen gehören unternehmerische Risiken wie eine Wirtschaftskrise, Geldentwertung, Änderung des Währungswechselkurses, Pflichtverletzungen durch Vertragspartner des Schuldners, Geldmangel etc. nicht zu den Umständen höherer Gewalt, sofern der Vertrag keine abweichenden Regelungen beinhaltet.

 

Von Dmitry Marenkov | Bonn
Juni 2020

 

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