RechtsprechungSteuerrecht

Verfassungs- oder Unionsrechtswidrigkeit von Säumniszuschlägen

Orientierungssatz:

  1. Die Höhe der Säumniszuschläge begegnet jedenfalls für Veranlagungszeiträume bis einschließlich 2018 keinen erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken, soweit mit der Norm des § 240 AO auch Zinsvorteile des Steuerpflichtigen ausgeglichen werden.
  2. Vor dem 1.1.2019 entstandene Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer verstoßen nicht gegen das mehrwertsteuerrechtliche Neutralitätsprinzip, denn der Grundsatz der Belastungsneutralität gilt nicht für steuerliche Nebenleistungen.
  3. Selbst wenn man für Zinsen und Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer den mehrwertsteuerrechtlichen Neutralitätsgrundsatz gelten ließe, würden vor dem 1.1.2019 entstandene Säumniszuschläge nicht hiergegen verstoßen, weil die mit den Säumniszuschlägen verfolgten Ziele letztlich auch der Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und Missbräuchen im Bereich des harmonisierten Mehrwertsteuerrechts dienen.

Tatbestand:

I.

Streitig ist die Aufhebung der Vollziehung der in den angefochtenen Abrechnungsbescheiden ausgewiesenen Säumniszuschläge wegen Verfassungswidrigkeit oder Unionsrechtswidrigkeit des § 240 Abgabenordnung (AO).

Auf Antrag der Antragstellerin erließ der Antragsgegner am 26.04.2022 Abrechnungsbescheide über Umsatzsteuer und Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer. Als entstandene Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer wurde abgerechnet:

  • 09/2013 in Höhe von 29 € (für den Zeitraum vom 30.12.2013 bis 28.02.2014),
  • 11/2013 in Höhe von 5 € (für den Zeitraum vom 30.12.2013 bis 28.02.2014),
  • 12/2013 in Höhe von 36 € (für den Zeitraum vom 24.02.2014 bis 23.04.2014),
  • II/2015 in Höhe von 16 € (für den Zeitraum vom 10.07.2015 bis 09.08.2015).

Laut den Abrechnungsbescheiden waren die Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer jeweils bereits bezahlt.

Gegen die Bescheide legte die Antragstellerin Einspruch ein und verwies auf die verfassungsrechtlichen Zweifel an der Höhe der Säumniszuschläge. Das Einspruchsverfahren ruht gemäß § 363 Abs. 2 Satz 1 AO mit Blick auf das Revisionsverfahren vor dem Bundesfinanzhof zum Aktenzeichen VII R 55/20.

Nach einer abschlägigen Entscheidung des Antragsgegners über die dort beantragte Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung hat die Antragstellerin den vorliegenden Antrag auf Aufhebung der Vollziehung gestellt. Dieser wurde zunächst beim 4. Senat des Gerichts unter dem Aktenzeichen 4 V 1370/22 und nunmehr beim 5. Senat unter dem Aktenzeichen 5 V 1370/22 geführt.

Zur Begründung ihres Antrags auf Aufhebung der Vollziehung nimmt die Antragstellerin zunächst Bezug auf die Beschlüsse des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 31.08.2021 (VII B 69/21) und des Finanzgerichts (FG) Münster vom 16.12.2021 (12 V 2684/21), 14.02.2022 (8V 2789/21), 23.02.2022 (15 V 202/22), 28.02.2022 (8 V 197/22), 03.03.2022 (4 V 194/22, 4 V 196/22, 4 V 391/22) sowie vom 04.03.2022 (4 V 195/22) und trägt ergänzend vor, dass die in den angefochtenen Abrechnungsbescheiden ausgewiesenen, nach dem 31.12.2013 entstandenen Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer sowohl verfassungswidrig also auch unionsrechtswidrig seien. Die abschließende Prüfung der Verfassungsmäßigkeit und Unionsrechtsmäßigkeit der Säumniszuschläge unter Berücksichtigung der von der Rechtsprechung aufgestellten Rechtsgrundsätze sei dem Hauptsacheverfahren vorzubehalten, so dass eine Aufhebung der Vollziehung zu gewähren sei.

Zur Verfassungswidrigkeit der in den Abrechnungsbescheiden ausgewiesenen Säumniszuschläge trägt die Antragstellerin vor, dass die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) festgestellte Verfassungswidrigkeit der Zinsen nach § 233a i.V.m. § 238 AO auf die Säumniszuschläge ausstrahle und deren Verfassungswidrigkeit ebenfalls begründe. Denn es sei davon auszugehen, dass in den Säumniszuschlägen ein Zinsanteil enthalten sei, welcher entsprechend der Entscheidung des BVerfG für die Vollverzinsung für die Jahre 2014-2018 verfassungswidrig hoch sei. Der Aufbau eines Systems der Zinsen und Zuschläge im Sinne der Folgerichtigkeit des gesetzgeberischen Handelns könne nicht isoliert beurteilt werden; die Verfassungswidrigkeit der einen Norm strahle auf die andere aus. Die Haushaltsgründe, die dazu geführt hätten, dass die Zinsen nach § 233a AO auch für die Jahre 2014-2018 weiter angewendet werden dürften, hätten für die Säumniszuschläge kein entsprechendes Gewicht.

Zur Unionsrechtswidrigkeit der in den Abrechnungsbescheiden ausgewiesenen Säumniszuschläge trägt die Antragstellerin vor, dass die Regelungen in §§ 238, 240 AO in einem unionsrechtlichen Kontext zu beurteilen seien. Es handele sich zwar um Regelungen des nationalen Verfahrensrechts, für das aus unionsrechtlicher Sicht grundsätzlich die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten gelte. Diese Autonomie werde jedoch, wie der Europäische Gerichtshof (EuGH) z.B. in seinen Urteilen vom 02.05.2018 (C-574/15), vom 28.07.2016 (C-332/15), vom 08.09.2015 (C-105/14), vom 12.05.2011 (C-107/10) und vom 08.05.2008 (C-95/07) hervorgehoben habe, durch die im Unionsprimärrecht verankerten Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität begrenzt. Ferner hätten die Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Regelungen des Unionsrechts die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen, wie auch der EuGH z.B. in seinen Urteilen vom 09.10.2014 (C-492/13), vom 14.09.2006 (C-181/04 u.a.) und vom 11.07.2002 (C-62/00) entschieden habe. In diesem Zusammenhang seien auch die Ausführungen des BFH in seinem Vorlagebeschluss vom 08.06.2021 (VII R 44/19) ab Randnummer 27 zu beachten. Der BFH prüfe in dem Vorlagebeschluss ebenfalls eine rein national wirkende Verfahrensvorschrift anhand des unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Ferner sei, da der Streitfall Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer betreffe, der mehrwertsteuerrechtliche Neutralitätsgrundsatz, bei dem es sich um einen Ausdruck des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes für den Bereich der Mehrwertsteuer handeln würde, zu beachten.

Der Steuerpflichtige könne sich, wie z.B. der EuGH mit Urteilen vom 13.12.1989 (C-342/87) und vom 11.04.2013 (C-138/12) sowie der BFH mit Vorlagebeschluss vom 08.06.2021 (VII R 44/19) entschieden hätten, auf die vorgenannten Grundsätze unmittelbar berufen. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union hätten bei Erlass und Anwendung von nationalen Regelungen zum Verfahrensrecht die Einhaltung dieser Grundsätze auch zu gewährleisten. Die nationalen Gerichte treffe insoweit die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung. Soweit sich im Rahmen der Auslegung keine unionsrechtskonforme Anwendung des nationalen Rechts herbeiführen lasse, dürften die nationalen Gerichte sowie andere staatliche Stellen, wie z.B. Finanzbehörden, die unionsrechtswidrige Regelung nicht anwenden (EuGH-Urteil vom 08.09.2015, C-105/14; Schlussantrag der Generalanwältin Kokott vom 13.12.2007, C-309/06). Dies gelte sowohl zugunsten wie auch zuungunsten des Steuerpflichtigen als auch für den Fall, dass eine nationale Regelung gegen die primärrechtlichen Grundsätze des Mehrwertsteuerrechts verstoße (EuGH-Urteil vom 08.09.2015, C-105/14).

Maßnahmen, welche die unionsrechtlich harmonisierte Mehrwertsteuer betreffen würden, dürften gem. Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) nicht über das zur Erreichung der darin genannten Ziele Erforderliche hinausgehen und nicht die Neutralität der Mehrwertsteuer in Frage stellen (EuGH-Urteil vom 15.09.2016, C-518/14). Diese unionsrechtlichen Vorgaben würden ausdrücklich auch dann gelten, wenn es sich um die mehrwertsteuerrechtliche Beurteilung von Sanktionen, wie beispielsweise Säumniszuschläge oder Zinsen, handeln würde. Dies ergebe sich z.B. aus den EuGH-Urteilen vom 08.05.2019 (C-712/17) und vom 26.04.2017 (C-564/15). Da es danach bereits gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße, wenn eine Geldbuße in Höhe von 50% des Steuerbetrages verhängt werde, seien die nationalen Säumniszuschläge erst recht unverhältnismäßig, da sie auch dann erhoben würden, wenn die Anforderungen der Steuer durch die Finanzbehörde überhaupt nicht berechtigt gewesen seien. Die Erhebung von unangemessen hohen steuerlichen Nebenleistungen, insbesondere von Säumniszuschlägen, sei weder erforderlich noch angemessen, um die gleichmäßige Erhebung der Umsatzsteuer sicherzustellen. Dies gelte insbesondere unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der in den Säumniszuschlägen enthaltene Zinsanteil wirtschaftlich überhöht sei, wie den Feststellungen des BVerfG zur Zinshöhe nach § 238 AO zu entnehmen sei. Ein verfassungswidrig zu hoher Zinsanteil könne jedoch nicht verhältnismäßig sein. Bei der Erhebung der Säumniszuschläge könne es sich auch um eine (unverhältnismäßige) Strafe handeln, welche sich aus europarechtlichen Gründen der Verhältnismäßigkeit ebenfalls verbieten würde. Auch würden die Säumniszuschläge nicht den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer wahren. Die Antragstellerin stellt hierzu den Vergleich zum Vorsteuerabzug her, in dessen Anwendungsbereich als Argument für eine Rückwirkung der Rechnungskorrektur angeführt worden sei, dass bei einer Verweigerung der rückwirkenden Korrektur der Leistungsempfänger zur Zahlung von Nachzahlungszinsen verpflichtet wäre, obwohl der Mitgliedstaat keine Einbuße an Steuern erleide, da das Umsatzsteueraufkommen im Ergebnis gleichbleibe (Schlussantrag des Generalanwalts Bot vom 17.02.2016, C-518/14). Die Anwendbarkeit der sich aus seiner Rechtsprechung ergebenden Grundsätze (Verhältnismäßigkeit, Neutralitätsgrundsatz, Effektivität) auf Zinsen und andere Sanktionsmaßnahmen, zu denen auch Säumniszuschläge gehören würden, habe der EuGH in seinen Urteilen vom 06.02.2014 (C-424/12, Rn. 50) und vom 15.09.2016 (C-518/14) auch noch einmal bestätigt.

Soweit der BFH noch mit Beschluss vom 11.05.2020 (V B 76/18) ausgeführt habe, dass Zinsen zur Umsatzsteuer keinen umsatzsteuerähnlichen Charakter im Sinne des Art. 401 MwStSystRL hätten und daher der mehrwertsteuerrechtliche Neutralitätsgrundsatz keine Anwendung finde, sei diese Rechtsauffassung mit der sich aus den hier benannten und zitierten Urteilen ergebenden EuGH-Rechtsprechung nicht in Einklang zu bringen. Zudem habe der BFH sich in seinem Beschluss vom 11.05.2020 (V B 76/18) nur mit der Zinspflicht dem Grunde nach, nicht aber auch der Höhe nach auseinandergesetzt. Hinzu käme, dass der BFH als letztinstanzliches Gericht die von ihr, der Antragstellerin, aufgezeigten unionsrechtlichen Zusammenhänge dem EuGH vorlegen müsse. Die Unzulänglichkeiten des BFH-Beschlusses vom 11.05.2020 (V B 76/18) würden auch in Ansehung der sich aus dem Beschluss des BVerfG vom 04.03.2021 (2 BvR 1161/19) ergebenden Grundsätze deutlich. Der bloße Hinweis, Zinsen zur Umsatzsteuer hätten keinen umsatzsteuerähnlichen Charakter, so dass der Neutralitätsgrundsatz keine Anwendung finde, genüge nicht, erst recht nicht in Ansehung der zwischenzeitlich vom BVerfG in dem Beschluss vom 08.07.2021 (1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17) festgestellten Verfassungswidrigkeit der Zinsregelung.

Der Beschluss des BVerfG vom 08.07.2021 (1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17) hätte sich mit den unionsrechtlichen Vorgaben für die Festsetzung von Zinsen und die dabei anzusetzende Zinshöhe nicht auseinandersetzen müssen. Vor diesem Hintergrund sei aus der angeordneten Fortgeltung der verfassungswidrigen Zinsregelungen für die Zeiträume 2014 bis 2018 nicht zu schlussfolgern, dass die Festsetzung von Zinsen für die Jahre 2014 bis 2018 auch aus unionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden sei.

In seiner antragsablehnenden Entscheidung vom 23.05.2022 (V B 4/22) habe der V. Senat des BFH den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht als berührt angesehen (so Heidner in der von der Antragstellerin vorgelegten NWB Online-Nachricht vom 21.07.2022), obwohl die Vereinbarkeit der Erhebung von steuerlichen Nebenleistungen wegen der verfassungswidrig hohen Zinshöhe von 6 % p.a. mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz seit mindestens 2014 zweifelhaft sei.

Aufgrund der vom BVerfG festgestellten Verfassungswidrigkeit der Zinshöhe nach § 233a AO sei die Regelung über die Erhebung von Säumniszuschlägen auch im Sinne der Folgerichtigkeit nicht mehr haltbar, weil der Gesetzgeber insoweit (bisher) ein einheitliches System angewendet habe. Insgesamt würde nicht nur der Liquiditätsvorteil ausgeglichen, sondern durch die Erhebung von Zinsen und Säumniszuschlägen würde in den Streitjahren darüber hinausgegangen.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

die Vollziehung der Abrechnungsbescheide über Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer 09/2013, 11/2013, 12/2013 und II/2015, jeweils vom 26.04.2022, in voller Höhe aufzuheben und bis einen Monat nach der Abschluss des Einspruchsverfahrens auszusetzen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung trägt er vor, der BFH habe in der von der Antragstellerin angesprochenen Entscheidung ausgeführt, dass das Hauptsacheverfahren abzuwarten sei.

§ 240 AO sei verfassungsgemäß, insbesondere seien die zu den Verzinsungsvorschriften der AO entwickelten Grundsätze auf diese Vorschrift nicht übertragbar. Soweit dem Säumniszuschlag ein Zinseffekt innewohne, trete er nur in Ausnahmefällen zutage und vermöge eine Verfassungswidrigkeit des § 240 AO nicht zu begründen. Die Aufteilung der Säumniszuschläge in einen Zinsanteil und einen Anteil als Druckmittel sei lediglich typisierend. § 238 AO und § 240 AO seien eigenständige, voneinander unabhängige Regelungen, die auch unterschiedliche Bedingungen (z.B. für volle/angefangene Monate, Schonfrist) gesetzlich festlegen würden.

Die Säumniszuschläge seien in ihrer gesetzlichen Höhe von 1% pro Monat verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Nach den Ausführungen des BVerfG in seiner Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit des Zinssatzes nach § 238 Abs. 1 Satz 1 AO vom 08.07.2021 (1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17) in dortiger Rz. 242 erstrecke sich die Unvereinbarkeitserklärung nicht auf die anderen Verzinsungstatbestände nach der AO (Stundungs-, Hinterziehungs- und Aussetzungszinsen). Nach seiner Auffassung komme analog hierzu eine Erstreckung der Unvereinbarkeitserklärung auf Säumniszuschläge ebenfalls nicht in Betracht.

Die Säumniszuschläge seien auch unionsrechtskonform, der Zinsanteil in den Säumniszuschlägen verstoße nicht gegen Unionsrecht. Steuerliche Nebenleistungen hätten nach den Entscheidungen des BFH vom 28.11.2002 (V R 54/00) und vom 11.05.2020 (V B 76/18) bereits keinen umsatzsteuerähnlichen Charakter im Sinne des Art. 401 MwStSystRL. Auch Säumniszuschläge (zur Umsatzsteuer) würden nach dem Urteil des BFH vom 09.10.2002 (V R 81/01) nicht die wesentlichen Merkmale der Mehrwertsteuer aufweisen. Somit fänden die unionsrechtlichen bzw. primärrechtlichen Grundsätze keine Anwendung.

Darüber hinaus wahre § 240 AO die unionsrechtlichen Vereinbarkeitsgrundsätze. So seien die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität gewahrt. Der Steuerpflichtige selbst habe es in der Hand, ob ein Säumniszuschlag kraft Gesetzes entstehe. Hierbei erfolge eine einheitliche Betrachtung sämtlicher befristeter Steueransprüche, wobei die Verwirkung von Säumniszuschlägen nicht so ausgestaltet sei, dass sie die Ausübung der Unionsrechtsordnung einräumenden Rechte praktisch unmöglich mache. Säumniszuschläge seien auch insgesamt als verhältnismäßig anzusehen. Sie gingen nicht über das zur Verwirklichung seiner Ziele erforderliche Maß hinaus. Die Mitgliedstaaten dürften gemäß Art. 273 MwStSystRL sachgerechte Maßnahmen erlassen, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden. Es sei nicht zu erkennen, dass Säumniszuschläge an sich gemessen an dem Ziel offensichtlich ungeeignet seien. Auch die pauschale Erhebung sei verhältnismäßig, obwohl mit ihr eine Berücksichtigung der Art und Schwere des Verstoßes nicht erfolge. Denn § 240 AO knüpfe lediglich an eine Versäumnis des Steuerpflichtigen zur fristgerechten Zahlung der zu entrichtenden Steuer an, so dass die Pauschalierung bereits im Normzweck begründet sei. Eine Individualisierung erfolge über die Höhe der Säumniszuschläge, da sich diese anhand der Höhe der rückständigen Steuern sowie des konkreten Zeitraums der Säumnis bemesse. Darüber hinaus bestehe noch die Möglichkeit der Billigkeitsprüfung gemäß § 227 AO. Das grundsätzlich zweistufige Verfahren – Anfall der Säumniszuschläge kraft Gesetzes und Einzelfallprüfung im Erlassverfahren – finde auch bei Umsatzsteuerforderungen Anwendung und sei mit Unionsrecht vereinbar (BFH, Beschluss vom 14.04.2020, VII B 53/19).

Gründe:

II.

  1. Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.

Gemäß § 69 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) soll die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes auf Antrag ausgesetzt oder aufgehoben werden, soweit ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

a. Der Antrag ist zulässig. Insbesondere handelt es sich bei den vier angefochtenen Abrechnungsbescheiden vom 26.04.2022 um vollziehbare Verwaltungsakte im Sinne von § 69 FGO, da darin die Säumniszuschläge erstmalig ausgewiesen werden (vgl. BFH, Urteil vom 15.06.1999, VII R 3/97, BStBl II 2000, 46; FG Münster, Beschlüsse vom 16.05.2022, 5 V 507/22, EFG 2022, 1357; vom 14.02.2022, 8 V 2789/21, juris; vom 16.12.2021, 12 V 2684/21 AO, juris; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 218 AO Rz. 28 bis 30).

Ob an der Rechtsprechung zum besonderen Aussetzungsinteresse bei ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit eines formell ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes (vgl. hierzu BFH, Beschlüsse vom 10.02.1984, III B 40/83, BStBl II 1984, 454; vom 01.04.2010, II B 168/09, BStBl II 2010, 558; vom 09.03.2012, VII B 171/11, BStBl II 2012, 418; vom 15.04.2014, II B 71/13, BFH/NV 2015, 7) weiter festzuhalten ist (vgl. nur BFH, Beschluss vom 20.09.2022, II B 3/22, BFH/NV 2022, 1328), kann dahingestellt bleiben. Denn jedenfalls dann, wenn es um die Vereinbarkeit einzelner Steuerrechtsnormen mit Unionsrecht geht, ist kein besonderes Aussetzungsinteresse erforderlich (vgl. BFH, Beschlüsse vom 30.11.2000, V B 187/00, BFH/NV 2001, 657; vom 12.12.2013, XI B 88/13, BFH/NV 2014, 550 und vom 23.05.2022, V B 4/22, BFH/NV 2022, 1030; abweichend BFH, Beschlüsse vom 28.10.2022, VI B 15/22, DStR 2022, 2437; VI B 27/22, juris; VI B 35/22, juris). Da es im Streitfall auch um die Vereinbarkeit des § 240 AO mit unionsrechtlichen Rechtsgrundsätzen geht, kommt es somit auf das Vorliegen eines besonderen Aussetzungsinteresses nicht an.

b. Der Antrag ist unbegründet. Die Vollziehung der angefochtenen Abrechnungsbescheide über Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer 09/2013, 11/2013, 12/2013 und II/2015 (jeweils vom 26.04.2022) ist nicht aufzuheben.

Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Verwaltungsaktes neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die die Unsicherheit oder Unentschiedenheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheiten in der Beurteilung von Tatfragen bewirken (ständige Rechtsprechung, vgl. u.a. BFH, Beschluss vom 31.01.2002 V B 108/01, BStBl II 2004, 622). Bei der notwendigen Abwägung der im Einzelfall entscheidungsrelevanten Umstände und Gründe sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs zu berücksichtigen. Die Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung setzt nicht voraus, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe überwiegen (vgl. u.a. BFH, Beschluss vom 25.11.2005, V B 75/05, BStBl II 2006, 484). Vielmehr genügt es, dass der Erfolg des Rechtsbehelfs ebenso wenig auszuschließen ist wie sein Misserfolg (BFH, Beschluss vom 23.08.2007, VI B 42/07, BStBl II 2007, 799). Dagegen begründet eine vage Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs noch keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts (BFH, Beschluss vom 11.06.1968, VI B 94/67, BStBl II 1968, 657). Ist die Rechtslage nicht eindeutig, ist im Regelfall die Vollziehung auszusetzen. Das gilt auch dann, wenn ernstliche Zweifel daran bestehen, ob die maßgebliche gesetzliche Regelung verfassungsgemäß ist. An die Zweifel hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit sind keine strengeren Anforderungen zu stellen als beim Einwand fehlerhafter Rechtsanwendung (BFH, Beschlüsse vom 19.02.2010, II B 122/09, BFH/NV 2010, 1144 und vom 04.07.2019, VIII B 128/18, BFH/NV 2019, 1060).

Wegen der Eilbedürftigkeit des Verfahrens findet eine Beschränkung des Prozessstoffs auf die dem Gericht vorliegenden Unterlagen, insbesondere auf die von der Finanzbehörde übersandten Akten und auf andere präsenten Beweismittel statt (vgl. u.a. BFH, Beschluss vom 21.07.1994 IV B 78/94, BFH/NV 1995, 116).

Ausgehend von diesen Grundsätzen bestehen nach summarischer Prüfung keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Abrechnungsbescheide über Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer 09/2013, 11/2013, 12/2013 und II/2015 (jeweils vom 26.04.2022), insbesondere nicht an der Verfassungs- und Unionsrechtsmäßigkeit der Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer, welche ausschließlich in den Jahren 2013 und 2014 entstanden sind.

(1) Wird eine Steuer nicht bis zum Ablauf eines Fälligkeitstages entrichtet, so ist für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Säumniszuschlag von 1 % des abgerundeten rückständigen Steuerbetrags zu entrichten (§ 240 Abs. 1 Satz 1 AO).

Säumniszuschläge sind ein Druckmittel eigener Art, das den Steuerschuldner zur rechtzeitigen Zahlung der festgesetzten und kraft Gesetzes sofort zu leistenden Steuerschuld anhalten soll, so dass sie insoweit eine Art Zwangsmittel darstellen (BFH, Urteil vom 26.01.1988, VIII R 151/84, BFH/NV 1988, 695). Darüber hinaus verfolgt § 240 AO den Zweck, vom Steuerpflichtigen eine Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern zu erhalten. Durch Säumniszuschläge werden schließlich auch die Verwaltungsaufwendungen abgegolten, die bei den verwaltenden Körperschaften dadurch entstehen, dass Steuerpflichtige eine fällige Steuer nicht oder nicht fristgemäß zahlen (BFH, Urteil vom 30.03.2006, V R 2/04, BStBl II 2006, 612; Beschluss vom 02.03.2017, II B 33/16, BStBl II 2017, 646; FG Münster, Beschlüsse vom 16.12.2021, 12 V 2684/21 AO, juris; vom 14.02.2022, 8 V 2789/21, juris, und vom 16.05.2022, 5 V 507/22, EFG 2022, 1357).

(2) Der Senat hat keine ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der streitgegenständlichen Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer, die sämtlich vor dem 01.01.2019 entstanden sind.

(a) Das BVerfG hat mit Beschluss vom 08.07.2021 (1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17, HFR 2021, 922) entschieden, dass die Regelung in § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verstößt und daher verfassungswidrig ist, soweit sie auf Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2014 zur Anwendung gelangt. Zugleich hat es entschieden, dass eine Fortgeltung der genannten Regelung für Verzinsungszeiträume vom 01.01.2014 bis zum 31.12.2018 geboten ist und es nur für Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2019 bei der Unanwendbarkeit als Regelfolge des Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG bleibt.

Im Weiteren hat das BVerfG in dem vorgenannten Beschluss vom 08.07.2021 darauf hingewiesen, dass andere Verzinsungstatbestände nach der Abgabenordnung einer eigenständigen verfassungsrechtlichen Wertung bedürfen (BVerfG, Beschluss vom 08.07.2021, 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17, HFR 2021, 922, Rz. 242 f.). Insbesondere sei zu berücksichtigen, dass Steuerpflichtige im Bereich der Teilverzinsungstatbestände – anders als bei der Vollverzinsung – grundsätzlich die Wahl hätten, ob sie den Zinstatbestand verwirklichen und den in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO geregelten Zinssatz hinnehmen oder ob sie die Steuerschuld tilgen und sich im Bedarfsfall die erforderlichen Geldmittel zur Begleichung der Steuerschuld anderweitig zu zinsgünstigeren Konditionen beschaffen.

(b) Der BFH hatte – vor Ergehen der Entscheidung des BVerfG vom 08.07.2021 – mehrfach Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlich festgelegten Höhe der Säumniszuschläge nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO geäußert (BFH, Urteil vom 30.06.2020, VII R 63/18, BStBl II 2021, 191; Beschlüsse vom 25.04.2018, IX B 21/18, BStBl II 2018, 415; vom 03.09.2018, VIII B 15/18, BFH/NV 2018, 1279; vom 04.07.2019, VIII B 128/18, BFH/NV 2019, 1060; vom 11.02.2020, VIII B 131/19, BFH/NV 2020, 507; vom 14.04.2020, VII B 53/19, BFH/NV 2021, 177; vom 30.06.2020, VII R 63/18, BStBl II 2021, 191; vom 26.05.2021, VII B 13/21, BFH/NV 2022, 209).

Nach Ergehen des Beschlusses des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Höhe von Zinsen im Sinne des § 233a in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO haben der V., VII. und VIII. Senat des BFH ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Höhe der Säumniszuschläge nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO geäußert, dies jedoch nur für Zeiträume ab dem 01.01.2019 (BFH, Beschlüsse vom 31.08.2021, VII B 69/21; vom 26.05.2021, VII B 13/21, BFH/NV 2022, 209, BFH/NV 2022, 209; vom 23.05.2022, V B 4/22, BFH/NV 2022, 1030; vom 11.11.2022, VIII B 64/22, DB 2022, 2970). Die Senate sehen insofern ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlich festgelegten Höhe der Säumniszuschläge, soweit den Säumniszuschlägen nicht die Funktion eines Druckmittels zukommt, sondern sie die Funktion einer Gegenleistung oder eines Ausgleichs für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern haben (zinsähnliche Funktion). Da es aber keine Teilverfassungswidrigkeit gebe, erstreckten sich die ernstlichen Zweifel auf die gesamte Höhe der Säumniszuschläge.

Hingegen hat der VI. Senat des BFH in seinen Entscheidungen vom 28.10.2022 keine verfassungsrechtlichen Zweifel für Zeiträume ab dem 01.01.2019 gesehen (BFH, Beschlüsse vom 28.10.2022, VI B 15/22, DStR 2022, 2437; VI B 27/22, juris; VI B 31/22, juris; VI B 35/22, juris; VI B 38/22, juris, und VI B 48/22, juris).

Für Zeiträume vor dem 01.01.2019 hat nach Ergehen des Beschlusses des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Höhe von Zinsen im Sinne des § 233a in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO bislang – soweit ersichtlich – kein Senat des BFH verfassungsrechtliche Zweifel an der Regelung in § 240 Abs. 1 Satz 1 AO gesehen (vgl. BFH, Beschlüsse vom 23.05.2022, V B 4/22, BFH/NV 2022, 1030; vom 28.10.2022, VI B 27/22, juris, und vom 28.10.2022, VI B 35/22, juris).

(c) Zu Säumniszuschlägen, die vor dem 01.01.2019 entstanden sind, verhalten sich auch finanzgerichtliche Entscheidungen entsprechend (FG Münster, Beschlüsse vom 16.05.2022, 5 V 507/22, EFG 2022, 1357; vom 21.09.2022, 12 V 26/22, juris).

(d) Auch der erkennende Senat hält den Beschluss des BVerfG vom 08.07.2021 (1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/14) nicht für geeignet, verfassungsrechtliche Zweifel an den vor dem 01.01.2019 entstandenen Säumniszuschlägen zu begründen (so bereits Beschluss vom 16.05.2022, 5 V 507/22, EFG 2022, 1357).

Zwar sind die Regelungen zur Vollverzinsung gem. §§ 233a, 238 Abs. 1 Satz 1 AO unter Anwendung eines starren Zinssatzes für Zinszeiträume ab dem 01.01.2014 nicht mehr verhältnismäßig und verstoßen daher gegen den in Art. 3 Abs. 1 GG verankerten Gleichheitsgrundsatz (BVerfG vom 08.07.2021, 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/14, DStR 2021, 1934, Rz. 147 ff.). Allerdings hat das BVerfG ausdrücklich die Fortgeltung der §§ 233a, 238 Abs. 1 Satz 1 AO für die Verzinsungszeiträume vor dem 01.01.2019 angeordnet. Diese Anordnung des BVerfG verdient auch Berücksichtigung im Hinblick auf die Säumniszuschläge, soweit diese neben einer Druckfunktion auch die Funktion einer Gegenleistung oder eines Ausgleichs für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern und damit insoweit eine zinsähnliche Funktion besitzen. Diese Vergleichbarkeit kann auf der Grundlage des BVerfG-Beschlusses vom 08.07.2021 (1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/14) zwar auf der einen Seite die Aussetzung der Säumniszuschläge wegen bestehender verfassungsrechtlicher Bedenken ab dem 01.01.2019 rechtfertigen, auf der anderen rechtfertigt diese Vergleichbarkeit gleichermaßen, dass die vor dem 01.01.2019 entstandenen Säumniszuschläge trotz der bestehenden verfassungsrechtlichen Bedenken wegen der Fortgeltungsanordnung des BVerfG nicht ausgesetzt werden (vgl. bereits Senatsbeschluss vom 16.05.2022, 5 V 507/22, EFG 2022, 1357; vgl. auch FG Münster, Beschluss vom 21.09.2022, 12 V 26/22 AO, juris).

(3) Der Senat hat auch keine ernstlichen Zweifel an der Unionsrechtsmäßigkeit der streitgegenständlichen Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer, die sämtlich vor dem 01.01.2019 entstanden sind.

Nach Art. 273 MwStSystRL haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, Maßnahmen zu erlassen, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehungen zu vermeiden. Sie sind jedoch verpflichtet, bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und seine Grundsätze, insbesondere die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer, zu beachten. Die Sanktionen dürfen also nicht über das zur Erreichung der in Art. 273 MwStSystRL genannten Ziele Erforderliche hinausgehen und die Neutralität der Mehrwertsteuer nicht in Frage stellen (EuGH, Urteil vom 08.05.2019, C-712/17, EN.SA., UR 2019, 469, Rn. 38 m.w.N.).

Die streitgegenständlichen Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer, die sämtlich vor dem 01.01.2019 entstanden sind, verstoßen nicht gegen die von der Klägerin angeführten unionsrechtlichen primär- und sekundärrechtlichen (Rechtsprechungs-)Grundsätze, so dass für den Streitfall dahingestellt bleiben kann, ob und inwieweit trotz der grundsätzlichen Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten unionsrechtliche Vorgaben auch im Hinblick auf die Regelung des § 240 AO zu berücksichtigen sind (vgl. zu dieser Frage hier nur Heuermann in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 233 AO, Rz. 25 f.).

(a) Die im angefochtenen Abrechnungsbescheid in Ansatz gebrachten und vor dem 01.01.2019 entstandenen Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer verstoßen nicht gegen das mehrwertsteuerrechtliche Neutralitätsprinzip.

(aa) Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem hat grundsätzlich die völlige Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten zu gewährleisten, sofern diese Tätigkeiten grundsätzlich selbst der Mehrwertsteuer unterliegen. Aus diesem Grund muss der Unternehmer durch den Vorsteuerabzugsmechanismus vollständig von der im Rahmen seiner gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden, wenn diese der Mehrwertsteuer unterliegt. Diese Forderung gilt z.B. auch für Nachzahlungszinsen, die auf die vor einer Berichtigung der ursprünglich ausgestellten Rechnung als geschuldet angesehenen Mehrwertsteuerbeträge zu entrichten sind. Hierdurch wird eine wirtschaftliche Tätigkeit mit einer aus der Mehrwertsteuer resultierenden steuerlichen Belastung belegt, obwohl das gemeinsame Mehrwertsteuersystem die Neutralität dieser Steuer garantiert (EuGH, Urteil vom 15.09.2016, C-518/14, Senatex, UR 2016, 2211, Rn. 37).

Allerdings wird auch die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen von den Bestimmungen des Unionsrechts im Bereich der Mehrwertsteuer anerkannt und gefördert. Die von den Mitgliedstaaten zur Erreichung der vorgenannten Ziele ergriffenen Maßnahmen dürfen jedoch nicht über ein hierfür erforderliches Maß hinausgehen. Sie dürfen daher z.B. nicht so eingesetzt werden, dass dadurch das Recht auf Mehrwertsteuererstattung und damit die Neutralität der Mehrwertsteuer systematisch in Frage gestellt würden (vgl. EuGH, Urteile vom 18.11.2020, C-371/19, Kommission/Deutschland, UR 2021, 111, Rn. 83; vom 21.03.2018, C-533/16, Volkswagen, UR 2018, 359, Rn. 48 m.w.N.).

(bb) Ein Verstoß gegen das Neutralitätsprinzip ist vorliegend nicht ersichtlich. Nach der Rechtsprechung des BFH gilt der Grundsatz der Belastungsneutralität für die Umsatzsteuer, nicht aber für steuerliche Nebenleistungen wie beispielsweise Zinsen. Denn Zinsen zur Umsatzsteuer haben keinen umsatzsteuerähnlichen Charakter im Sinne von Art. 401 MwStSystRL (vgl. BFH, Beschlüsse vom 11.05.2020, V B 76/18, BFH/NV 2020, 1047; vom 23.05.2022, V B 4/22, BFH/NV 2022, 1030). Dasselbe gilt für Säumniszuschläge als steuerliche Nebenleistungen im Sinne von § 3 Abs. 4 AO (BFH, Beschluss vom 23.05.2022, V B 4/22, BFH/NV 2022, 1030).

(cc) Selbst wenn man hier auch für Zinsen bzw. Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer den mehrwertsteuerrechtlichen Neutralitätsgrundsatz Geltung finden lassen würde, würden die streitgegenständlichen, vor dem 01.01.2019 entstandenen Säumniszuschläge nicht gegen diesen verstoßen. Entstandene Säumniszuschläge für eine festgesetzte und fällige Umsatzsteuerschuld bedeuten zwar für den Unternehmer (Steuerpflichtigen) hinsichtlich der von ihm ausgeübten wirtschaftlichen Tätigkeit eine endgültige Belastung, da er die Säumniszuschläge nicht zusammen mit der Umsatzsteuer über den Preis auf den Leistungsempfänger abwälzen kann. Die mit den Säumniszuschlägen verfolgten Ziele dienen jedoch letztlich auch der Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und Missbräuchen im Bereich des harmonisierten Mehrwertsteuerrechts. Dies gilt zum einen für die Funktion als Druckmittel, mittels derer der Unternehmer (Steuerpflichtige) angehalten wird, die gegen ihn festgesetzte Steuerschuld zu zahlen. Dies gilt zum anderen auch für den zinsähnlichen Zweck, eine Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger (Umsatz-)Steuern zu erhalten. Insoweit mindert die Entstehung von Säumniszuschlägen die mit einer Nichtzahlung einer Umsatzsteuerschuld einhergehenden finanziellen (Liquiditäts-)Vorteile.

Bei den vor dem 01.01.2019 entstandenen Säumniszuschlägen handelt es sich nicht um Maßnahmen, die über das erforderliche Maß hinausgehen, um die Nichtzahlung von fälligen Umsatzsteuerschulden zu bekämpfen. Es bestehen keine ausdrücklichen unionsrechtlichen Vorgaben zur Erhebung einer gegen einen Unternehmer (Steuerpflichtigen) festgesetzten Umsatzsteuerschuld. Vielmehr gilt insoweit der Grundsatz der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie (vgl. hierzu Englisch in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl. 2021, Rz. 4.41). Aus diesem Grund hat der erkennende Senat wegen der durch das BVerfG vom 08.07.2021 (1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/14) angeordneten Fortgeltung der für verfassungswidrig erachteten Zinsregelung in § 233a i.V.m. § 238 AO bei summarischer Prüfung keine Bedenken, die vor dem 01.01.2019 entstandenen Säumniszuschläge auch der Höhe nach als erforderliche Maßnahme zur Bekämpfung der Nichtzahlung von Umsatzsteuerschulden anzusehen. Darüber hinaus hat der Unternehmer (Steuerpflichtige) – anders als bei der Vollverzinsung – grundsätzlich die Wahl, ob er den Zinstatbestand verwirklicht und den in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO geregelten Zinssatz hinnimmt oder ob er die Steuerschuld tilgt und sich im Bedarfsfall die erforderlichen Geldmittel zur Begleichung der Steuerschuld anderweitig zu zinsgünstigeren Konditionen beschafft (BVerfG, Beschluss vom 08.07.2021, 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/14, DStR 2021, 1934, Rz. 243).

(b) Es ist unter Berücksichtigung der weiteren nationalen Verfahrensvorschriften zum Erlass auch nicht ersichtlich, dass die Regelung des § 240 AO gegen das unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip verstößt.

(aa) Eine Sanktion von 1 % je Monat des fälligen Steuerbetrags (Säumniszuschlag) ist geeignet, die Steuerpflichtigen zur möglichst raschen Begleichung von Steuerrückständen zu veranlassen und somit das Ziel zu erreichen, die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen. Diese Sanktion geht auch nicht über das zur Erreichung dieses Ziels Erforderliche hinaus. Zwar werden Säumniszuschläge automatisch bei Nichtzahlung der fälligen Steuerschuld verwirkt, deren Einziehung kann aber „nach Lage des einzelnen Falls” aus sachlichen oder persönlichen Gründen unbillig sein, sodass ein Erlass in Betracht kommt (§ 227 AO). Persönliche Billigkeitsgründe liegen beispielsweise vor bei einer unverschuldeten finanziellen Notlage (BFH, Urteil vom 27.09.2001, X R 134/98, BStBl II 2002, 176, 179; vgl. allgemein zu persönlichen Billigkeitsgründen Loose in Tipke/Kruse, § 227 AO Rz 86 ff.), sachliche Billigkeitsgründe liegen vor, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers die Einziehung der Säumniszuschläge den Wertungen des Gesetzgebers widerspricht (vgl. Loose in Tipke/Kruse, § 227 AO Rz 40 ff.). Dabei kann es bei Vorliegen zusätzlicher persönlicher oder sachlicher Billigkeitsgründe gerechtfertigt sein, die gesamten Säumniszuschläge zu erlassen (BFH, Urteil vom 30.03.2006, V R 2/04, BStBl II 2006, 612). Dieses zweistufige Verfahren berücksichtigt die Art und Schwere eines Verstoßes hinreichend und ist daher auch unionsrechtskonform (BFH, Beschluss vom 23.05.2022, V B 4/22, BFH/NV 2022, 1030; so auch Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 240 AO Rz 19, m.w.N.).

(bb) Soweit die Antragstellerin behauptet, die nationale Regelung sei bereits deswegen unionsrechtswidrig, weil Säumniszuschläge gemäß § 240 Abs. 1 Satz 4 AO auch dann weiterhin erhoben werden, wenn die Steuerfestsetzung überhaupt nicht berechtigt sei, hat sie in keiner Weise dargelegt, dass dies auf die Umsatzsteuerforderungen gegen die Antragstellerin zutreffen könnte.

(cc) Soweit die Antragstellerin der Auffassung ist, dass ein verfassungswidrig zu hoher Zinsanteil im Säumniszuschlag nicht verhältnismäßig sein könne, ist im Hinblick auf den Beschluss des BVerfG vom 08.07.2021 (1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/14) auch insoweit die Fortgeltungsanordnung des BVerfG für Zeiträume vor dem 01.01.2019 zu berücksichtigen. Diese Anordnung würde unterlaufen, wenn auf der einen Seite eine (unionsrechtliche) Unverhältnismäßigkeit der Säumniszuschläge unter Hinweis auf den Beschluss des BVerfG vom 08.07.2021 (1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/14) begründet werden würde.

(c) Schließlich ist nicht ersichtlich, dass die im angefochtenen Abrechnungsbescheid aufgeführten und vor dem 01.01.2019 entstandenen Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer gegen den unionsrechtlichen Grundsatz der Effektivität und Äquivalenz verstoßen.

(aa) Der Grundsatz der Effektivität verbietet den Mitgliedstaaten Verfahrensregelungen, welche die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (vgl. EuGH, Urteil vom 19.07.2012, C-591/10, Littlewoods Retail u.a., UR 2012, 1018, Rz. 28 m.w.N.). Nach dem Grundsatz der Äquivalenz dürfen die nationalen Verfahrensregelungen nicht ungünstiger ausgestaltet sein als die Vorschriften, die für vergleichbare, aber nicht dem Anwendungsbereich des Unionsrechts unterfallende Sachverhalte gelten (vgl. EuGH, Urteil vom 19.07.2012, C-591/10, Littlewoods Retail u.a., UR 2012, 1018, Rz. 31; Englisch in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl. 2021, Rn. 4.42).

(bb) Die Entstehung von Säumniszuschlägen führt – soweit nach summarischer Prüfung erkennbar – nicht dazu, dem Unternehmer (Steuerpflichtigen) durch die Unionsrechtsordnung allgemein oder durch die unionsrechtlichen Regelungen zum harmonisierten Mehrwertsteuerrecht im Besonderen gewährte bzw. verliehene Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren. Die Säumniszuschläge knüpfen an eine fällige und nicht bezahlte Steuerschuld an und lassen die speziellen Regelungen des harmonisierten Mehrwertsteuersystems zur Entstehung und Erhebung der Steuerschuld unberührt. Die Antragstellerin hat auch nicht weiter vorgetragen, in welchem ihrer von der Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte betreffend das harmonisierte Mehrwertsteuerrecht sie sich durch die vor dem 01.01.2019 entstandenen Säumniszuschläge beschränkt fühlt. Ebenso ist nach summarischer Prüfung, auch unter Berücksichtigung des Vortrags der Antragstellerin, nicht erkennbar, ob und welche nationale (Verfahrens-)Regelung für den Zeitraum vor dem 01.01.2019 mit der Regelung zu Säumniszuschlägen vergleichbar, aber günstiger ausgestaltet sein soll.

(4) Es bestehen auch darüber hinaus keine Anhaltspunkte, die ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer begründen könnten.

c. Tatsachen für eine Aussetzung der Vollziehung wegen unbilliger, nicht durch öffentliche Interessen gebotener Härte sind nicht vorgetragen worden und auch sonst nicht ersichtlich.

  1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Finanzgericht Münster, 5-V-1370/22
Beschluss vom 22.12.2022

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