Rechtsprechung

Keine Präklusion: Partei muss auf neue Wertung in Berufungsinstanz reagieren können

Sieht das Berufungsgericht eine Forderung als streitig, welche die Vorinstanz noch als unstreitig ansah, muss der Kläger dazu noch vortragen können.

Wenn das Berufungsgericht erstmals eine Klageforderung als streitig betrachtet, welche im Urteil der ersten Instanz als unstreitig bezeichnet wurde, so darf es ergänzenden klägerischen Vortrag nicht als präkludiert gem. §§ 525, 296 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) ansehen. Stattdessen ist das Bestreiten der Forderung als neues Verteidigungsmittel i. S. d. § 531 Abs. 2 ZPO anzusehen. Nach dessen Zulassung muss das Gericht dem Gegner ermöglichen, hierzu Stellung zu nehmen. Dies hat der Bundesgerichtshof (BGH) im Rahmen einer Schadensersatzklage entschieden (Beschluss vom 01.08.2023, Az. VI ZR 191/22).

Die Parteien streiten sich um Schadensersatzforderungen wegen eines Unfalls auf einem Waldweg. Der Kläger war – unzulässigerweise – auf diesem mit dem Auto unterwegs gewesen und dabei mit einem Sattelschlepper zusammengestoßen. Er fordert nun eine hohe Schadensersatzsumme, u. a. wegen Verdienstausfalls. Die Beklagten bestreiten schon die eigene Schuld an dem Unfall.

OLG sieht erstmals Bestreiten der Forderung

Das Landgericht hat der Forderung jedoch vollumfänglich stattgegeben. Dabei ist es laut tatbestandlichen Feststellungen im Urteil davon ausgegangen, dass der Vortrag des Klägers zur Höhe des Verdienstausfalls unstrittig sei. Diese Feststellungen sind nicht im Berichtigungsverfahren gem. § 320 ZPO korrigiert worden.

In der Berufungsinstanz ging jedoch das Oberlandesgericht (OLG) Dresden davon aus, dass diese Schadensposition durchaus in zulässiger Weise mit Nichtwissen bestritten worden sei. Der Kläger hätte daher den von ihm behaupteten Erwerbsschaden substantiiert darlegen und unter Beweis stellen müssen, habe dies aber versäumt. Zwar legte er später entsprechende schlüssige Belege vor. Diese erachtete das OLG jedoch als präkludiert und berücksichtigte sie nicht mehr, bevor es die Klage in diesem Umgang abwies (Urteil vom 20.05.2022, Az. 1 U 336/21).

Das sah der BGH nun aber anders, hob infolge einer Nichtzulassungsbeschwerde das Urteil der Vorinstanz teilweise auf und verwies in diesem Umfang an sie zurück. Das OLG habe durch die Annahme der Präklusion das Recht des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt. Schließlich habe das OLG in der Berufungsverhandlung erstmals darauf hingewiesen, dass es das Bestreiten in zweiter Instanz berücksichtigen werde. Dann hätte es nach der ZPO aber das Bestreiten als neues Verteidigungsmittel zulassen und auch den daraufhin erfolgten Klägervortrag berücksichtigen müssen.

Bundesrechtsanwaltskammer
Mitteilung vom 09.10.2023

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